Zwangsstörungen
Jeder Mensch kennt Gedanken, die ungerufen in den Sinn kommen oder Handlungen, die man ausführt, obwohl sie übertrieben erscheinen. „Habe ich den Wecker wirklich gestellt“, könnte solch ein Gedanke sein, in dessen Folge z. B. am Abend vor einem wichtigen Termin noch einmal das Licht angeschaltet und kontrolliert wird, ob sich der Schalter an der Uhr wirklich in der richtigen Position befindet und die Weckzeit tatsachlich die richtige ist. Solche Gedanken und Handlungen können sich um verschiedene Themen drehen. Typische Inhaltsbereiche, von denen viele Menschen berichten, sind
- Fehler oder zufälliges Unglück (wie den Herd nicht ausgeschaltet oder jemanden versehentlich mit dem Auto angefahren zu haben)
- Schmutz oder Verunreinigung (z. B. sich oder jemanden mit einer Krankheit anzustecken)
- Verhinderung physischer Gewalt gegen sich oder andere, schwächere Personen (z. B. einen gebrechlichen Menschen die Treppe herunterschubsen)
- sozial unangemessenes Verhalten zu zeigen (z. B. etwas Obszönes in der Öffentlichkeit rufen zu können).
Dies sind nur einige Beispiele. Gemeinsam ist allen diesen Themen, dass sie jeweils den Betroffenen besonders wichtig sind und sie deshalb ein Unheil dieser Art unbedingt vermeiden mochten.
Auch Personen, die unter einer Zwangsstörung leiden, erleben Gedanken, die ihnen plötzlich in den Sinn kommen und sie fühlen sich häufig dazu gezwungen, Handlungen auszufuhren mit dem Ziel, ein Unheil zu vermeiden und Angst und Anspannung zu reduzieren. Um sicher zu gehen, werden die Handlungen häufig mehrmals hintereinander ausgeführt. Bei Personen, die eine Zwangsstörung haben, haben diese Gedanken oder Handlungen im Laufe der Zeit ein so großes Ausmaß angenommen, dass die Betroffenen sehr darunter leiden und in ihrer normalen Lebensführung deutlich eingeschränkt sind.
Wenn die Gedanken und Handlungen so häufig und lästig geworden sind, nennt man sie Zwangsgedanken bzw.
Zwangshandlungen. Die meisten Menschen mit einer Zwangsstörung finden ihr eigenes Verhalten übertrieben und wehren sich dagegen, Zwangshandlungen in so einem großen Ausmaß durchzuführen. Aber fast immer gewinnt die Angst, und sie gehen lieber auf Nummer sicher und geben dem Drang, die Handlung auszufuhren, nach. Manchmal entwickeln sich aus den Zwangshandlungen Rituale; d. h. die Betroffenen fuhren die Zwangshandlungen nach ganz bestimmten Regeln oder in festgelegten Reihenfolgen durch. Dies resultiert meistens daraus, dass die Vielzahl der zu verhindernden Unglücke und die häufige Wiederholung der einzelnen Zwangshandlungen so besser zu erinnern und zu bewältigen ist.
Weil den meisten Betroffenen ihr eigenes Verhalten übertrieben vorkommt und peinlich ist, hat man lange Zeit unterschätzt, wie viele Menschen eigentlich unter einer Zwangsstörung leiden. Leider ist dieses Problem dagegen recht verbreitet. Man geht davon aus, dass weltweit 2-3% der Menschen davon betroffen sind. Wenn man also z. B. in einem mittelgroßen Kino mit 300 Sitzplatzen sitzt, kann man davon ausgehen, dass 6-9 Personen im Publikum unter einer Zwangsstörung leiden.
Quelle: Ertle, A. (2012). Zwangsstorung. In G. Meinlschmidt, S. Schneider, J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Materialien für die Psychotherapie (Bd. 4). Berlin, Heidelberg,
New York, Tokio: Springer, Kap. 33.